Sechs Millionen Deutsche, Partisanen und Parasiten

Oder auf Themen, die nicht nur mit dem dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte verbunden sind, sondern auch von einer fruchtbaren Koexistenz berichten, die es Deutschen bis heute ermöglicht, weitgehend Jiddisch zu verstehen?
Mit seiner Band Painted Bird ist Kahn in diesem Jahr viel unterwegs - in Deutschland, Österreich, der Schweiz, Tschechien. "Ich habe Interesse nur daran, Fragen zu stellen", sagt er vor einem Auftritt in Wetzlar. "Auch wenn wir eine deutliche Message haben, eine Nachricht: Ich stelle das als eine Frage. Das ist etwas von jiddischer Kultur, diese doppelte Bedeutung. Das Klischee ist: Lachen durch Tränen. Oder Weinen durch Lächeln."
Am kommenden Freitag erscheint Kahns Album "Partisans & Parasites" (Oriente). Darin besingt Kahn die Geschichte des Partisanenhelden Abba Kovner, der nach der Niederlage Nazi-Deutschlands grausame Rache nehmen wollte, mit seinen Massenvergiftungsplänen aber im letzten Moment scheiterte: "Six Million Germans", lautet der Titel. Und er schrieb das erste auf Wikipedia-Recherchen beruhende Lied der Pop- und Klezmer-Kultur, "Parasites", in dem er streng wissenschaftlich-biologisch die Lebens- und Überlebensstrategien von Toxo-plasma Gondii, des Lancet-Leberegels und der Juwelwespe (Ampulex Compressa) beschreibt. Um Abhängigkeiten, Wechselwirkungen und dem in unserer Kultur so hoch veranschlagten Wert der individuellen Unabhängigkeit geht es Kahn.
In Deutschland hat man die Hedgefonds mal als Heuschrecken bezeichnet - ist also auch Thema, wie Wirtschaft heute funktioniert? "Es hat viel damit zu tun", sagt Kahn. "Was war das Unwort des Jahres? Notleidende Banken. Hat das etwas mit Parasiten zu tun? Ich will die Idee von Parasiten ein bisschen auf den Kopf stellen. Natürlich weiß ich, dass Juden als Parasiten bezeichnet wurden. Aber für mich ist die Frage: Sind wir nicht alle ein bisschen parasitisch zueinander? Was ist das Mittel für Unabhängigkeit? Zumindest ich, ich bin allein, ich bin unabhängig - und doch sind wir alle abhängig voneinander in der Gesellschaft. Wir manipulieren uns selber. Aber im Lied steht nichts davon. Es ist nur biologisch."

"Ist es besser, zu vergessen?"
"Nakam", Rache, ist das Thema von "Six Million Germans". "Kovner ist ein großer Held in Israel, aber nicht wegen dieser Geschichte", erklärt Kahn. "Er ist ein großer Held in Israel, weil er 1948 gut gekämpft hat. Diese Geschichte mit Rache, die war total unbekannt. Das ist erst in den letzten zehn Jahren etwas rausgekommen. Er war auch ein großer Dichter."
"Six Million Germans..." beginnt der Refrain. "You might say it wasn't right./An eye for an eye leaves all without sight./They didn't want to make amends./They wanted one thing: Nakam, revenge." - "Rache spielt eine große Rolle in der israelischen Politik, auch der amerikanischen und der deutschen", sagt Kahn. Und auch in der arabischen. "Es gibt nicht nur eine arabische Politik, soll auch sagen: Es gibt nicht nur eine israelische Politik. Es ist sehr kompliziert und ich vergleiche überhaupt nicht." Im Lied stellt er wieder eine Frage - die nach den unbeglichenen Schulden der Geschichte: "Ist es besser, zu vergessen?" - "Vielleicht gibt es keine Antwort", sagt er im Interview. Vielleicht gibt es keine Lösung." Und zitiert ein jüdisches Sprichwort: "Die beste Antwort auf eine Frage ist noch eine Frage."
Oder ein Lied über Exil und Staatenlosigkeit, "geschrieben 2007 in Israel/Palästina", wie das mit vielen interessanten Details aufwartende Booklet berichtet. "Dumai (Think)" ist, wie viele Lieder, mehrsprachig: Jiddisch und Englisch, in anderen kommt Hebräisch und Russisch hinzu. Dabei kann es Verschiebungen geben. "Vemen sol dos land gehern?/ tsi folk fun levone tsi folk fun shtern?" - "The land is holy, but for whom? / God of the star or the crescent moon?" Wenn es keinen gerechten Frieden gebe, bleibe nur die Frage: "Where will exile draw the line? / in Israel or Palestine?"

Jiddisch "großartiges Modell für Internationalismus"
Kahn kam 2005 nach Berlin, weil er sich im Amerika des George W. Bush nicht mehr wohlfühlte. Er ist an deutscher Kultur interessiert, wovon auf dem Album die Interpretation von Kurt Tucholskys "Rosen auf den Weg gestreut" kündet - ins Englische direkt als "Embrace the Fascists" übersetzt. Und an der Staatsgrenzen überschreitenden Verbreitung von Jiddisch, eine Sprache, die noch immer von St. Petersburg bis zu seiner Heimatstadt Detroit präsent ist. Nicht verloren, wie ein Konzertbesucher gemeint habe, sondern einsam sei Jiddisch.
"It's a great model for internationalism", sagt er. "Even in the language itself. There's a famous saying. I speak 21 languages, but all of them in Jiddish. The way Jiddish developed historically is very similar to modern American English: It incorporates so many words from different cultures that comprise America. And what draws me to Jiddish is the same thing that drives me to America: The good side of America, which is its dynamic, its vielfachig..." - "Seine Vielseitigkeit?" - "Jaja. It's not one thing. Es hat nichts mit Blut zu tun. Es hat mit - it's a communality, things to be shared, hybridity, heterogeny."